Einfach so wie immer

Normativität war immer schon ein Thema für mich, vermutlich schlicht weil ich manche Sachen nicht so gemacht habe wie die meisten. Nerdiger als andere Leute in meinem Alter, nicht so modebewusst, auf andere Art männlich, in Beziehungen nicht so richtig passig mit den ganzen Ideen die’s so gibt… insofern bin ich da vorbelastet und deshalb sind meine Antennen da sehr sensibel.

Heute will ich über ein Geschehnis in Gesprächen schreiben, das sich aus Normativität ergibt (dieser Artikel steht damit quasi in einer Reihe mit den Artikeln über Whataboutism und „Bei mir ist das ja so„).

Menschen mögen ja nicht so gern Komplexität, und wenn es mehrere Möglichkeiten gibt, etwas zu machen, entsteht Komplexität, die man dann reduzieren möchte. Und ganz oft sind das dann Reduzierungen auf einen Default-Wert, häufig in der Form „Lasst es uns doch einfach so machen wie immer“.

  • Lasst uns doch einfach schreiben „Männer und Frauen“, ich weiß jetzt auch nicht wie man das inklusiver machen könnte.
  • Sag doch einfach Beziehung, was stammelst du dir da einen zurecht um den Kontakt zu beschreiben?
  • Kauf doch einfach Bier und Chips, was überlegst du da so kompliziert mit Gesundheit und Suchterkrankungen?

Ich mag das nicht, wie ihr euch schon denkt, und das hat mehrere Gründe:

Zum Einen unterminiert es gesellschaftliches Vorankommen, denn neue Ideen sind immer schwerer zu denken als die bereits bekannten Ideen. Wenn wir uns immer für die leichteren Gedanken entscheiden, denken wir nie was neues. Veränderung IST kompliziert.

Vor allem aber hat es was mit Macht zu tun. Ich sehe ja total ein, dass die Norm halt für viele Leute passend ist, deshalb ist sie die Norm. Aber häufig gibt es dann Situationen, wo es nicht um große Gruppen geht, sondern um Einzelne, und dann hat man einen Menschen, für den die Norm passt, und einen für den sie nicht passt. Und dann ist das Argument „Lass uns doch einfach die billigen Würstchen bei Aldi kaufen und es nicht so kompliziert machen“ eigentlich Chiffre für „Meine Position ist zufällig der Mainstream und deshalb will ich mich jetzt durchsetzen“. Aber das ist Blödsinn. Ich glaube es gibt sogar Situationen, wo der Mainstream zufällig mal in der Minderheit ist, aber die vielen Abweichler alle den Mund halten, weil die hegemoniale Meinung so stark ist. Ich war bis vor kurzem in einem Chor, wo die Leitung viel entschieden hat, wie das so läuft mit einem Chor, Auftritte, Werbung, Pünktlichkeit, und vor lauter „Ja stimmt, so läuft es oft“ haben wir fast nicht gemerkt, dass eigentlich die Mehrheit im Chor was anderes wollte.

(Randbemerkung: Oft kommen nach meiner Einschätzung auf genau diese Art Positionen von Frauen unter die Räder von meinungsstarken Männern, denn viele Mainstream-Positionen sind Männerpositionen. Allerdings bin ich nicht der richtige, um darüber zu schreiben, weil ich keine Frau bin… ich empfehle das Buch Invisible Women von Caroline Criado Perez!).

Schon bevor es überhaupt zur Diskussion kommt, hat dieses Default-Denken also riesigen Einfluss – auch weil die Leute, die zufällig die Mainstreamposition haben, oft gar nicht merken, dass das überhaupt etwas zum diskutieren ist! Da wird dann oft weggewischt: „Ach, viel zu kompliziert, wir machen es einfach so…“. Und das macht ganz viel anderes Erleben unsichtbar… und ich halte dieses Auslöschen von Minderheitspositionen für Gewalt.
Diese Gewalt bleibt oft unsichtbar, weil gar nichts passiert… die Situation läuft einfach weiter, alles ganz normal, und die einen merken gar nicht, dass es da eine Abzweigung gab, und die die es merken haben an keiner Stelle das Gefühl gehabt, das diese Abzweigung okay gewesen wäre.

Zu guter Letzt verschenkt man sich auch richtig interessante Positionen. Das Unwohlsein mit dem, wie man es im Default so macht, ist oft eine Spur in ganz interessante Varianten, weil unser Erleben was total tolles ist, und es lohnt sich immer, Leute nach ihrem Stocken zu fragen, denn da steht ja was dahinter. Wenn jemand den Partner eben nicht einfach mitbringen will, ist doch keine große Sache, stecken dahinter vielleicht gute Ideen zu Freundschaft und Co-Abhängigkeit und der übergroßen Bedeutung, die in unserer Gesellschaft auf Paarbeziehung liegt. Wenn jemand nicht einfach ein neues Handy kauft, wenn das alte kaputt ist, liegt es vielleicht an wichtigen Einsichten über Bauxitabbau, globale Ausbeutung und Kapitalismus.

Ja, dadurch wird es immer komplizierter. Aber ich lade euch ein, wenn ihr das nächste Mal jemanden (oder euch selbst) hört, wie ihr sagt „Oder wir machen es einfach so und so“, dass ihr nochmal überlegt: Was ist das Komplizierte, das ich gerade vom Tisch wische, und könnte es sein, dass ich damit jemanden unterdrücke oder wir etwas interessantes verpassen?

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