Die ganze Kraft einer Kultur

Ich weiß noch nicht so ganz, wo ich mit diesem Artikel so hin will, aber irgendwas daran muss mal gerade hier ins Blog. Mal gucken, vielleicht weiß ich es am Ende.

Schritt 1: Kulturbegriff

Unter Kultur verstehe ich – nach einer Formulierung von Kenneth Gergen, die ich phantastisch fand – geteilte Annahmen über das Wahre und Gute. Das ist sicher nur eine Lesart, aber für mich ist sie nicht schlecht. Zum Vergleich einmal kurz in die Wikipedia geschaut:

Der Kulturbegriff ist im Laufe der Geschichte immer wieder von unterschiedlichen Seiten einer Bestimmung unterzogen worden. […] Die Bandbreite der Bedeutungsinhalte ist entsprechend groß und reicht von einer rein deskriptiven Verwendung („die Kultur jener Zeit“) bis zu einer normativen, wenn bei letzterem mit dem Begriff der Kultur zu erfüllende Ansprüche verbunden werden.

Ich bleibe aber erstmal bei den geteilten Annahmen über Wahr und Gut. Die deutsche Kultur hat zB bestimmte Annahmen über Brot, Bier, Arbeiten am Sonntag oder Pünktlichkeit. Selbstverständlich nicht ohne Varianz, aber es gibt durchaus eine deutsche Kultur über diese Dinge. Leute in Deutschland haben eine Haltung zu diesen Annahmen. Wenn heiß diskutiert wird, ob irgendwas zur deutschen Kultur gehört (Kreuze und Kopftücher in Klassenzimmern, Grillen, Willkommenheißen) wird ausgehandelt, welche der Annahmen über das Wahre und Gute noch tragfähig sind und für genügend Menschen passen.

Natürlich gibt es auch in viel kleineren sozialen Gefügen Annahmen über das Wahre und Gute. In meinem Freundeskreis kann ich Annahmen finden wie:

  • Denken hilft; Intelligenz ist was feines
  • Freundlich sein ist nett
  • Aufrichtigkeit ist wichtig

Schritt 2: Judith Butler

Mein lieber Mitbewohner ʕ•͡ᴥ•ʔ rollt jetzt mit den Augen, der kann den ganzen Genderkram nicht mehr hören. *hihi*. Ich mag aber Genderkram, wobei er hier nur am Rand eine Rolle spielt. Judith Butler hat den Third Wave Feminism eingeläutet. Die anderen Wellen sind nicht erledigt (das wäre schön), aber es gibt halt auch neuere.

  1. Welle: Frauen sollten strukturell gleichgestellt sein (de juris)
    >> Wahlrecht, Arbeitsrecht, Scheidungsrecht, Abtreibungen, gender pay gap
  2. Welle: Frauen sollten kulturell gleichgestellt sein (de facto)
    >> Frauen als Sexobjekte no more, man spricht mit Frauen wie mit anderen Menschen
  3. Welle: Wieso reden wir eigentlich die ganze Zeit über Frauen und Männer? Worüber reden wir hier eigentlich?
    >> Unterschied „sex“ und „gender“, also biologisches und soziales Geschlecht, Queerness als Konzept, viele Arten Frau zu sein

Aktuell läuft die 4. Welle, hab ich so mitbekommen, ein pragmatischer Feminismus, der sexpositiv, körperbunt und selbstbewusst ist und Platz bietet für jede Art von Frau sein, aber das Frau sein als solches auch nicht ständig zum Thema machen will, und eigentlich sind die Männer auch tüchtig mitgedacht. Das Private ist nicht mehr politisch, sondern eben privat, und DAS wiederum ist ein wichtiges Politikum des fourth wave feminism – zumindest lese ich das so. Lasst uns in Ruhe mit dem sexistischen Kackscheiß, wir wollen mal kurz in sexy Shorts bei der Arbeit das Gehalt nachverhandeln, die dummen Sprüche bitte steckenlassen, danke schön.

Aber Ende des Diskurses, ich wollte ja eigentlich über einen wichtigen Satz von Judith Butler reden: Doing Gender.

doing gender“ is the idea that gender, rather than being an innate quality of individuals, is a psychologically ingrained social construct that actively surfaces in everyday human interaction.

(„Doing Gender“ ist die Idee, dass Geschlecht keine angeborene Qualität eines Individuums ist, sondern vielmehr ein psychologisch verwurzeltes soziales Konstrukt, das in alltäglichen menschlichen Interaktionen aktiv an die Oberfläche gelangt)

Danach ist also das soziale Geschlecht eben nicht, „wie man sich so fühlt“, sondern ein soziales Konstrukt das wir durch unser Handeln aufrecht erhalten – und zwar alle gemeinsam, zu der Konstruktion gehören auch die Mitmenschen.

Ich liebe dieses Konzept sehr, weil man ganz viele Sachen eigentlich nicht „ist“, sondern „tut“. Doing Kranksein, Doing Silvester, Doing Nerdsein, wir führen die ganze Zeit irgendwelche Wahrheiten auf, und alle helfen mit, denn: Es gibt ja geteilte Annahmen über das Richtige und Wahre, und das Thema „Männerschnupfen“ beispielsweise ist kulturell völlig geklärt, alle wissen, wie das doing dazu aussieht: Als Mann schön rumleiden, drumrum ein paar Witze machen. (Wieso mich das nervt, muss ich demnächst auch mal aufschreiben…)

Kultur jedenfalls wird STÄNDIG performt, und solange man die Annahmen der Performance teilt, kann man sie überhaupt nicht erkennen. Heterosein, Deutschsein, Mannsein, Partnersein, das wird ständig ausgeübt, gezeigt und gelesen. Wie man sich die Hand gibt, wie lange man sich anguckt, aus welchen Gefäßen man wie trinkt, die schiere Anzahl von Regeln, über die Einigkeit herrscht ist UNFASSBAR! Als Beleg ein kleiner Test zum Thema Urinalbenutzung. Wer Urinale benutzt, darf staunen, dass man die „richtigen“ Antworten kennt, alle anderen dürfen staunen, dass das wissbar ist.

Schritt 3: Alles ist Text

Noch ein Schritt vor der Pointe. Bear with me, ich mache es kurz.
Jacques Derrida, wichtiger Konstruktivist, hat die Aussage geprägt:

Alles ist Text.

Damit ist gemeint, dass die Dinge nicht irgendwie sind, sondern dass sie gelesen werden, ähnlich wie Geschichten. Die Bedeutung der Welt entsteht demnach durch eine Be-Deutung, und verschiedene Leute be-deuten anders, und beim zweiten Lesen fallen einem zB ganz andere Aspekte einer Erzählung auf. Dieses Deuten übrigens, dieses Lesen kann man dann natürlich auch besser in Augenschein nehmen und mal schauen, was für Lesegewohnheiten man da eigentlich hat, wieso andere Leute den „Text“ ganz anders verstehen als nun gerade mal wir. Wunderbare Kiste.

Schritt 4: The cake is a lie!

The cake is a lieIch versuche zusammenzufassen:

  • Es gibt bestimmte Ideen über das Wahre und Gute, die man Kultur nennen kann.
  • Diese Kultur wird ausgedrückt, indem wir sie „aufführen“, mit tausenderlei Ausdrucksmöglichkeiten.
  • Diese Ausdrücke werden sodann gelesen gemäß der Ideen über das Wahre und Gute.

Mich persönlich beschäftigen diese Themen, weil ich, seit ich einigermaßen groß bin, damit konfrontiert bin, an irgendwelchen Maßstäben zu scheitern, die kulturellen Ideen nicht zu verstehen oder zumindest nicht zu teilen, und auf die ein oder anderer Weise irgendwie schräg zu sein. Neulich erst wieder hat eine richtig nahe Freundin meine Handyhülle als Ausdruck einer nicht vorhandenen Männlichkeit (ich weiß nicht ob vs. Frau oder vs. Kind) gelesen. Letztens wurde mir rückgemeldet, dass ich höher rede als man das scheinbar als Mann tut.

Und es ist mir SO WICHTIG, dass all diese Sachen auf ANNAHMEN und LESARTEN basieren, das ganze Ding dreht sich im Kreis, die Performance​s werden sowohl aus der Kultur heraus geboren und aus der Kultur heraus rezipiert, aber die Welt ballert einem diese ganzen Sachen mit einer solchen Inbrunst und Überzeugung entgegen, dass das verdammt noch eins ganz schön anstrengend sein kann, und es nervt mich oft richtig hart, weil ich das alles ziemlich willkürlich und mehrheitsdiktatorisch und oft sogar albern finde in dieser Ernsthaftigkeit. Grr.

Puuh. Dahin also ging’s. :)

5 Gedanken zu „Die ganze Kraft einer Kultur“

  1. Ah. In-te-ressant! Ich bin bei den Punkten 1-3 voll bei Dir. Und im Grunde auchgenommen auch beim 4ten Punkt. Nicht nur im Grund genommen, sondern voll, voll. Obschon für mich viele von den Normkultursachen funktionieren, immer funktioniert haben und ich überhaupt gut zurecht komme, so weiss ich doch auch, dass ich selber lange gebraucht habe, um Abweichungen von der Normkultur umarmen zu können. Und wenn ich heute durch die Stadt gehe oder unterwegs bin, dann sehe ich sie überall und für viele ist das einfach Alltag, auch wenn es ihnen meistens gar nicht bewusst ist. Ich glaube, es ist schwer dahin zu kommen, es ist Arbeit. Denn – so ist das ja mit Vorurteilen: Sie machen einem das Leben einfacher. Hier ist die Brotabteilung des Supermarktes, also kann ich wohl davon ausgehen, dass die Sachen, die hier im Regal stehen Brote sind. Ich muss keine lange Inhaltsangabe lesen um sicher zu sein, dass es nicht vielleicht doch Möpkenbrot ist, was ich gerade in den Einkaufswagen gelegt habe.

    Soviel vielleicht nur zur „Entschuldigung“ der anderen.

    Dann auch schon: Ich finde auch – gerade bei Geschlecht und Weiblich und Männlich haben wir eigentlich einen Punkt erreicht, wo allen klar sein sollten: Das Frauenbild und das Männerbild des letzten Jahrtausends ist Quatsch, sowei andere biologistische Kategorisierungen von Menschen Quatsch sind. Das könnte echt wirklich mal angekommen sein.

    Aprospos: Haste schon 2312 von Kim Stanley Robinson gelesen?

    1. Ich bin mittlerweile sehr vorsichtig geworden bei Literaturtipps von dir… Doris Lessing fand ich eine schreckliche Zumutung, und Master & Commander eintönig und schwurbelig… :-)
      Aber: Nein, 2312 kenne ich nicht.

      Und zu den Normen: mir geht es nicht darum, alles zu verurteilen oder abzuschaffen, die Brotabteilung darf gern bleiben, sie ist ja praktisch. Aber ich finde es wichtig, sich klarzumachen, dass das halt Ideen sind, Ciabatta und Pumpernickel in der gleichen Ecke zu verkaufen, und man könnte auch nach Herkunft, Nährwert, oder Alphabet sortieren. Es muss Ideen geben, Menschen sortieren halt – aber es macht eine Gesellschaft deutlich durchlässiger, wenn genug Menschen darum wissen, dass die Ideen nur Ideen sind, und keine Fakten.

      1. Ah. Hehe, das kann ich verstehen, dass Du meinen Literatur-Ratschlägen da etwas misstraust. Ich denke trotzdem, dass es Dir gefallen sollte. Für den Psychologen in Dir ist es eine Liebesgeschichte, für den Unterhaltungsleser ein Krimi und für den Aufklärer eine Geschichte mit nicht weniger als 24 „Kategorien eines geschlechtlichen Selbstbilds“ und eine Idee von der Rettung der Menschheit. Geschickt erzählt obendrein. Hier ist meine ausführliche Rezension, falls Du sie verpasst hast. Aber Obacht: Spoiler ahaead.

      2. Achso … und ich wie in meinem Blogartikel schrob: Kauf es Dir, fang an zu lesen und falls es Dir nicht gefällt, kaufe ich Dir das Buch ab, oder lade Dich zum Essen ein oder so.

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