Rollenspiel wie Videospiel
In meinen nicht enden wollenden Überlegungen rund um die Frage, wie man Rollenspiel noch zugänglicher und simpler machen kann, dachte ich vor kurzem über Videospiele nach. Lustigerweise interessieren mich Rollenspiel-Computerspiele nicht, weil man nur Geschichte aufdecken, aber nicht mitgestalten kann, es ist keine Ko-Kreation. Trotzdem finde ich einige Sachen bedenkenswert, insbesondere auch um neuen Menschen das Leiten zu erleichtern.
Irgendwann mal habe ich Ben gefragt (der vor kurzem noch abgestritten hat, viel vorzubereiten), was er so über ein Haus wüsste, wenn die Spieler:innen da einbrechen wollen, und er meinte „Alles.“. Mich hat das richtig fertig gemacht, so kann ich nicht leiten, das schaffe ich gar nicht vom Gedächtnis her, mir fällt es nicht sehr leicht, mir im stillen Kämmerlein Details auszudenken. Ich brauche eher eine klare Struktur mit guten Eckpunkten und zwei bis drei Details, die ich vorher weiß. Ich wüsste eher „vielleicht ist da ne Bibliothek, unten eine Speisekammer, eine Wache sitzt im Flur“, aber nicht was für Bücher da stehen, wer die Wache ist und wie schwierig das Schloss zu knacken ist, zB. Ich möchte aber auch mit einem Gefühl guter Vorbereitung in eine Sitzung gehen, von daher kommen wir nun zu den Inspirationen aus Videospielen. Dabei möchte ich gern auf Gedanken kommen, die systemagnostisch sind, also in allen Spielsystemen funktionieren.
NSCs
NSCs in Videospielen sind meistens in drei klare Gruppen eingeteilt: einige laufen rum und haben meinetwegen einen flotten Spruch auf den Lippen. Die sind eigentlich nur Füllmaterial, damit die Welt sich lebendig anfühlt. Dann gibt es noch Händler:innen, die einem was verkaufen oder verbessern, und dann gibt es die Questgeber:innen. Die wollen was und diktieren einem Aufgaben ins Questlog. Nur letztere sind tatsächlich Figuren mit Tiefe (wobei Händler:innen manchmal auch Quests vergeben und dann mehr Tiefe gewinnen).
Wenn ich das aufs Tischrollenspiel übertrage, gefällt mir die Klarheit, insbesondere für die Vorbereitung: wenn ich für eine Szene bzw einen Ort einen NSC und, wenn es passt, noch einen Händler vorbereiten muss, das ist doch schön simpel. Zum Beispiel:
Auf der Raumstation gibt es die Stations-KI, mit der kann man sprechen, sie will dass ein Wrack geborgen wird, das ihre Scanner nicht durchleuchten können, und eine Schmugglerin namens Rafi kauft seltene Bauteile und kann Dinge reparieren. Alle anderen Leute auf der Station sind nicht so wichtig, und das könnte man der eigenen Spielgruppe ja auch so transparent machen: Sorry Leute, die wichtigen Figuren hier sind die KI und Rafi.
Exploration
Ein wesentliches Element in Videospielen, das ich sehr liebe, ist die Erkundung der Welt, durch die man neue Geschichten und neue Möglichkeiten aufdeckt. Die Orte sind dabei oft unheimlich cool (oder cool unheimlich, höhö), man findet Gruften, Paläste, Klippen und Baumhäuser, und darin natürlich irgendein tolles Zeug das man für die Händler oder Questen braucht. Gelegentlich sind dort auch NSCs, die man entweder mitnehmen darf oder die vor Ort bleiben.
Oft entstehen dadurch auch Schnellreisemöglichkeiten, sei es durch eine Abkürzung, die man nun öffnet (Hollow Knight oder Animal Well machen das) oder durch, im weitesten Sinne, Teleporter (die Ställe in Breath of the Wild, die Lagerfeuer in Elden Ring).
In Rollenspielen ist Exploration gar nicht sooo häufig ein eigenes Element. In Starforged (und vielleicht auch Ironsworn) gibt es zumindest XP für unternommene Reisen, aber oft geht man als Gruppe eher dorthin, wo man die Story vermutet.
Allerdings hat Mike Shea in seinem Lazy DM-Werk natürlich fantastische Orte immer mit drin, und tatsächlich profitieren Rollenspiel-Abende meiner Erfahrung nach sehr davon, wenn die Leitung schon vorher über einen Ort nachgedacht hat.
Wenn ich hier von Videospielen lernen will, würde ich sagen: Man könnte auch so spielen, dass es einfach coole Orte gibt, die man sich vorher zusammenwürfelt oder ausdenkt, und da packt man dann eben jeweils einen NSC hin und einige Gefahren (bevor man zum NSC kommt oder in denen der NSC gerade steckt oder auf dem Hin- oder Rückweg – einfach ein paar interaktive Elemente für die Gruppe).
In unserem Beispiel wäre das Wrack ein solcher Ort: Asteoriden drumrum, eine blockierte Luftschleuse, innen drin kein Strom außer Notbeleuchtung. Der NSC vor Ort ist Kemlin, ein blinder Passagier, der sich selbst versteckt und später in Stasis versetzt hat, nachdem das Schiff von Piraten ausgeräubert wurde (mögliche Quest: Piraten bekämpfen und Crew befreien oder Zeug zurückräubern). Das Schiff ist ungewöhnlich modern, daher auch die gute Abschirmung gegenüber der Raumstation, es scheint ein spionagetaugliches Schiff zu sein (mögliche Quest: Herkunft herausfinden oder wieder flott machen).
Möglicherweise werden danach neue Orte interessant für den nächsten Spieleabend: das Nest der Piraten, die geheime Werft der Weltraumspione, keine Ahnung. :) Das ist in jedem Fall einfacher, als Handlungsstränge zu entwerfen, was ich früher gemacht habe, weil man dafür immer quasi eine Welt mit ihren Akteuren im Kopf haben muss.
Aufbau
Das ist ja eigentlich in Videospielen mein Allerliebstes, und das gibt es echt kaum im Tischrollenspiel: Basis aufbauen, Schiff verbessern, Dinge automatisieren, Straßen ausbauen, Lichter anbringen… Ich gebe aber zu: das ist vermutlich einfach eine andere Freude, als gemeinsam eine Geschichte zu erzählen. In Starforged und Blades gibt es zumindest Clocks für Questen oder Langzeitprojekte, aber das ist ja für sehr spezifische Dinge und passiert auch eher separat vom eigentlichen Rollenspielen.
Wenn ich dennoch davon lernen möchte für diese denkbare Art, Rollenspiel zu leiten, dann fällt mir auf dass man natürlich schon Dinge baut: ein soziales Geflecht mit NSCs, ein Inventar aus toller Beute. Auch das Steigern von Fertigkeiten ist eine Freude an Wachstum.
Ebenso ist das gemeinsame Hinzufügen von Details etwas, das in meinem Spielrunden eigentlich immer vor- und in meinen Augen auch gut ankommt: Jede:r Spieler:in benennt zum Beispiel ein beunruhigendes Detail des Raums, in dem Kemlin gerade in Stasis ist („es blinken überall Lichter und ein leises, durchgehendes Piepen ist zu hören“, „wenn man aus dem Fenster guckt, blickt man genau auf die Stelle, wo die Piraten die Hülle aufgeschnitten haben“, „neben der Stasiskammer liegt Werkzeug, die Kammer selbst sieht so aus als wäre so notdürftig repariert worden“).
Das finde ich eh schon gut, und man könnte das auch nutzen, um Wachstum abzubilden: „die Stations-KI ist euch sehr dankbar, dass ihr das Wrack geborgen habt, und gibt euch eine Verbesserung für euer Schiff: was ist es, und was verändert das für euch im Alltag?“. Ein derart vorbereitetes Abenteuer würde also Fragen für die Spielenden präsentieren, statt Details vorzugeben. Wanderhome macht das bei der Charaktererschaffung durchgehend so und ich finde es regt die Phantasie unglaublich gut an!
Richtig intensiv übertragen könnte man natürlich auch ganz stumpfe Aufbauquests einbauen, so nach dem Motto „Rafi benötigt 4 Alien-Legierung, um euer Schiff zu reparieren. Die KI benötigt 3 Modulare Kerne, um die Kommunikationsrelais wieder online zu nehmen.“ Das ist dann sehr nah dran an Videospielen und ihren berüchtigten „Fetch-Quests“, aber da man während dieser Quests ja sehr frei spielen kann, könnte das auch funktionieren – ist aber tatsächlich nicht mehr systemagnostisch, sondern führt eine Mechanik ein, nämlich das Sammeln von Ressourcen. Aber „bringe mir Objekt X“ ist ja nun wirklich auch eine klassische Geschichte.
Fazit
Auf diese Art ein Abenteuer vorzubereiten, stelle ich mir irgendwie gut vor. Natürlich wird die Gruppe trotzdem noch irgendwas vorhaben, das man improvisieren muss (oder halt offen sagen, dass das Abenteuer woanders ist, wenn man nicht gern improvisiert), aber als Start fände ich das schon ganz nett.. es ist so machbar, so handhabbar.
Die meisten Systeme haben ja Möglichkeiten, den Rest auch zu füllen, zB mit Zufallsbegegnungen oder schon vorbereiteter Welt. Die Formel „drei coole Orte mit jeweils ein bis höchstens zwei NSCs sind ein schöner Abend“ gefällt mir allerdings ausnehmend gut!
Klingt auch nach einer guten Möglichkeit für Karteikarten oder ein Mindmapping-Tool – am besten so, dass man NSCs auch verschieben kann. Vielleicht kommt Kemlin mit auf Reisen, vielleicht will er auf der Raumstation bleiben und verliebt sich in Rafi, vielleicht sucht er seinerseits die Piraten, aus Schuldgefühlen gegenüber der überfallenen Crew, deren unbemerkter Gast er war.
Ich bin neugierig, das ihr dazu so denkt!