Rollenspiel ohne Vorbereitung
Wie schon mehrfach hier erwähnt, interessieren mich narrativ ausgerichtete Rollenspielsysteme, in denen es vor allem darum geht, gemeinsam eine gute Story zu erfinden. Meine Prägung als Spielleitung kommt aber aus einer Zeit, in der die Spielleitung „Meister“ genannt wurde und auch entsprechendes von ihr erwartet wurde: Der Meister kannte die Story, und die Spieler durften die Story im schlechtesten Fall umblättern, im besten Fall bekamen sie eine gute Rolle.
Ich versuche mich mehr und mehr von dieser Spielweise zu lösen. Zum einen will ich selber mehr Spieler sein und mich auf Rollenspielabende freuen (anstatt sie im Vorfeld als Arbeit zu empfinden), zum anderen will ich die anderen Spielenden gern mehr im Regiestuhl haben.
In meiner aktuellen HEART-Runde sitzen zwei Leute mit ganz viel DSA-Erfahrung, und oft merke ich richtig, wie auch bei denen dieser Switch ein bisschen Aufwand erfordert: Dann fragen sie mich „gibt es hier irgendwo einen Lüftungsschacht?“, und ich antworte dann eigentlich immer „Kommt drauf an, wäre es gut für die Szene wenn es ihn gibt? Dann ja!“.
Den letzten Rollenspielabend habe ich kaum vorbereitet. Ich wusste aus den Abenden vorher (und grundsätzlichen Überlegungen zum Abenteuer), welche Figuren gerade relevant sind und was die wollen. Ich wusste außerdem schon, dass die Gruppe Interesse hatte, mit dem Portaldämon zu interagieren. Weil ich meine Prägung noch nicht ganz abgeschüttelt habe, gab es in meinen Vorbereitungen ein paar Szenen, über die ich nachgedacht hatte. Das EINZIGE, was davon wichtig wurde, waren die Überlegungen zu dem, was der Dämon so will. Der ganze Rest war irrelevant für die Sitzung.
Ich mag mal für mich und natürlich gern auch für euch, wenn es euch nützt, notieren was ich in der Sitzung gemacht habe, das ein Spiel mit dem Schwerpunkt auf dem Narrativen ermöglicht hat, ganz im Sinne von Apocalypse World von Vincent und Meguey Baker (und folgenden Powered by the Apocalypse-Spielen wie zB Dungeon World): Play to find out what happens.
NSCs mit Agenden, Orte mit Flaire
Anstatt eine Geschichte vorzubereiten, folge ich Ideen aus Dungeon World (hier kurz erwähnt) und Sly Flourish’s Lazy GM:
In Dungeon World gibt es Fronten (also widrige Elemente der Geschichte), die ein Ziel haben und ihre Schatten vorauswerfen. Die Vorbereitung beschränkt sich darauf, gut zu wissen, was die Fronten so im Schilde führen und wie das eskalieren kann. Das kann so simpel sein wie:
Perode will mithilfe des Portaldämons eine Geheimbibliothek erreichen.
Die Schatten, die dies vorauswirft sind:
– Für seine Experimente sperrt er einen wichtigen Handelsort und lässt Leute Kristalle aller Art zu ihm liefern
– Er lässt Leute verschwinden, um sie in seinen Experimenten einzusetzen
– Er nimmt Kontakt mit einer anderen wichtigen Fraktion auf, um den Durchbruch zu erreichen
– Er bekommt den benötigten Kristall und bereitet die Reise vor
– Er erreicht die Geheimbibliothek und sein erlangtes Wissen ermöglicht ihm XXX (kann ich leider nicht schreiben, die Spielenden lesen evtl. mit)
In jeder Sitzung weiß ich dann schon, dass vielleicht der nächste Schatten eintrifft. Easy.
Aus Sly Flourish nehme ich mit, dass fantastische Orte schwierig zu improvisieren sind und es sich lohnt, die ein bisschen im Vorfeld auszudenken oder sogar (wenn man drauf steht) eine Karte dafür rauszusuchen oder zumindest eine Beschreibung schriftlich festzuhalten, die man dann vorlesen kann.
Rundum Details beschreiben lassen
Ein Tool für die Sitzung selbst, das ich jetzt regelmäßig nutze, ersetzt für mich Zufallstabellen: Ich lasse jede Person am Tisch ein Detail beschreiben, entweder ein Detail einer Szene, einer Person, oder auch im Rahmen einer Montage ein Element der Handlung: In der letzten Sitzung zum Beispiel wollte die Gruppe den Dämon kontrollieren, während er im Körper einer Protagonistin ankommt, und ich habe jede Spieler:in beschreiben lassen, was währenddessen passiert bzw. wie die eigene Spielfigur hilft. Das war großartig, und ich hätte mir das selber nie so toll und vielseitig ausdenken können!
Loaded Questions
Eine Unterform davon habe ich zuletzt in „The Ultimate RPG Gameplay Guide“ von James D’Amato gelesen (klare Empfehlung sowohl für Spielende wie Leitende!), es war mir aber vorher auch schon hie und da begegnet: Loaded Questions bezeichnen eigentlich etwas blödes, nämlich Fragen, in denen schon eine Annahme steckt, was oft sehr unangenehm sein kann im echten Leben: „Und wie schaffst du das so, Job und Kinder gleichzeitig?“ ist eben keine reine Interessensfrage, sondern transportiert ein Werturteil.
In Ermangelung eines besseren Begriffs borge ich „Loaded Question“ hier fürs Rollenspiel – es geht um Fragen, in denen ich die Richtung/ Stimmung vorgebe, und mir dann Details von den Spielenden hole.
- Was macht diese Kneipe unheimlich?
- Der Kapitän strahlt neben Expertise noch viel Humor aus. Woran merkt ihr das?
- An diesem Ort muss etwas schreckliches passiert sein. Welche Spuren hat es hinterlassen?
Ich kann als Leitung hier das vorgeben, was ich für nötig halte, damit die Geschichte passend weitergeht. Der Kapitän könnte ja auch Härte ausstrahlen statt Humor, und trotzdem wären die Spielenden dran, das mit Leben zu füllen. Nimmt mir Arbeit ab und ist für die Spielenden oft total schön, um beim Worldbuilding mitzumachen und nicht nur zu fragen, wie die Welt so ist.
NSCs abgeben
Das habe ich bei der letzten HEART-Sitzung das erste Mal probiert, und es war super! Eine Protagonistin wollte gern 3 NSCs belauschen, wie sie auf etwas reagieren, und ich dachte „Oh Gott, ein Gespräch mit 3 Leuten simulieren, wie anstrengend“. Fast mehr aus der Not habe ich dann 2 NSCs abgegeben an 2 Spielende, die gerade nicht direkt involviert waren und habe ihnen privat eine ganz kleine Regieanweisung gegeben: Dein Charakter hat erwartet, dass das funktioniert und ist besorgt, dass der Auftraggeber unzufrieden sein könnte. Dein Charakter will sich in ein gutes Licht rücken.
Das hat ganz toll geklappt und es war ein wunderbar authentisches Durcheinander.
Beats / Ziele
Heart gibt „Story Beats“ vor: Jede Figur hat immer 2 „Beats“ aktiv, also Wendungen in der Geschichte oder bestimmte Szenen / Ereignisse, die die Spielerin für ihre Figur cool findet. Eine schlimme Verletzung erleiden, in einen Streit geraten und den Kürzeren ziehen, jemanden verhören… all das können Beats sein. Dabei geht es nicht darum, dass die immer toll sind, im Gegenteil – es geht nur darum, dass sie interessant sind. Die Szene, wo Pippin Ärger von Gandalf kriegt, ist nicht gut für Pippin, aber es ist eine super Szene, um mehr über Pippin zu verstehen. Insofern ist es eine Abkehr vom avataristischen Rollenspiel (ich spiele in der Welt durch meine Figur, ich BIN meine Figur) hin zu gemeinsamen Storytelling (ich erfinde eine Geschichte und lenke dabei die Geschicke eine Figur, der ich eine coole Story gönne).
James D’Amato schlägt in seinem RPG Guide etwas ähnliches vor, nämlich dass jeder Charakter ein kurzfristiges, mittelfristiges und langfristiges Ziel hat. Was das ermöglicht, ist Schwung aus der Gruppe: Wenn eine Spielerin in der Geschichte etwas findet, das ihr den Beat ermöglicht oder das zu ihrem Ziel passt, wird sie damit interagieren und selber eine Richtung einschlagen, damit es passiert. Das verhindert wunderbar dieses passive Reagieren auf das immer neue Kaninchen, das die Leitung aus dem Hut zaubert.
Die ganze Dämon-Geschichte bei uns gerade hat viel damit zu tun, dass eine Spielerin gern Perode (den Hauptwidersacher momentan) verhören möchte (daher der ganze Aufwand, zu ihm zu kommen ohne dass Wachen dabei sind), und eine andere Spielerin wollte in eine tiefe Trance. Das dämonische Ritual hat sie als Gelegenheit identifiziert, um sie zu erleben. Top!
Am Ende der Sitzung die Pläne erfragen
Sehr hilfreich um weniger vorzubereiten fand ich auch, am Ende einer Sitzung zu erfragen, was die Leute in der nächsten Sitzung vorhaben. Auf dem HEART-Discord hat Grant Howitt, einer der beiden Autoren, mal auf meine Frage wie man gut leitet geschrieben, dass man rauskriegt was die Leute wollen und es ihnen dann gibt.
The trick is to get people to tell you what they want and then give it to them.
Grant Howitt
Ich fand das damals so mittelmäßig hilfreich (und als ich das deutlich gemacht habe, hat er auch noch ein bisschen mehr geschrieben), aber da ist schon was dran.
Wenn ich weiß, dass die Gruppe Perode verhören will, dann ist klar, dass (a) das passieren sollte und (b) es interessant sein sollte, also ein paar Komplikationen passieren könnten.
Und wisst ihr, wie ich diese Komplikationen finde? Entweder in den Zielen der NSCs, in den Beats der Figuren, oder ich frage die Spielenden. :)
Perode ist allein in seinem Zimmer, ihr könnt ihn durch’s Schlüsselloch sehen. Allerdings seht ihr auch eine Sache, die euch zögern lässt, einfach einzutreten: Was ist es?
Und das Geile ist: Ich weiß es dann ja selber nicht und es wird interessant für alle Beteiligten, inklusive meiner Wenigkeit als Spielleitung! Dadurch bin ich weniger Geschichtenerzähler, sondern Dirigent oder Gastgeber oder Seminarleiter: Meine Aufgabe ist nicht, zu wissen was passiert, sondern gute Methoden parat zu haben, um es gemeinsam herauszukriegen!