Therapie als Rollenspiel

Ich bin in einer Arbeitsgruppe mit Gleichgesinnten, die sich für die Implikationen der Postmoderne für Psychotherapie, Beratung und Coaching interessieren. Ursprünglich sind die psychosozialen Dienstleistungen allesamt extrem strukturalistisch geprägt: Irgendwo tief im Menschen ist ein Defekt, und wenn man den findet (grab grab unter der Oberfläche) und vielleicht sogar mehr weiß als die Person selbst (Expertentum much, Wissen ist objektiv), dann kann man es heilen.

Über die Jahre gab es natürlich Updates: Die Verhaltenstheoretiker interessierten sich weniger für Persönlichkeit und Unterbewusstsein, sondern für Gelerntes, waren aber immer noch an objektiven Zusammenhängen interessiert. Die Systemiker haben sich Systeme angeschaut, der Mensch als ein Rädchen, das von anderen Rädchen bewegt wird, aber auch das ist ja total strukturalistisch.

Die Postmoderne brachte die Idee mit, dass objektive Wahrheit und die Suche nach dem „Kern“ nicht funktionieren könne. Stattdessen braucht es viel mehr Augenmerk auf subjektive Wahrheiten, auf vielfältige Perspektiven. Nicht mehr graben, um zu reparieren, sondern Perspektiven bezeugen, um Autorenschaft im eigenen Leben zu stärken. Agency.

[Puh, das war ein Schweinsgalopp durch viel viel umfassendere Themen, ich hoffe ihr seid noch mit mir]

In einem der letzten Treffen sagte jemand, dass es nicht um die Werkzeuge (unsere Fragetechniken) geht, sondern um die „Moves“ die dadurch ermöglicht werden: Menschen kommen gedanklich in Bewegung an neue Orte, erschließen neue Areale von Sinn.

Und ich dachte sofort: Moves? Moment mal, die gibt es auch in PbtA-Rollenspielen, in der Tradition von Apocalypse World (gratis verfügbar!). In meinem Besitz sind das beispielsweise Dungeon World, aber auch Ironsworn oder mein neu erstandenes DIE, über das ich bald noch schreiben möchte. Wo man früher nur über Fertigkeiten nachdachte (Kann der Charakter schwimmen? Kann er Akrobatik?), geht es hier eher um den „Move“, also das, was der Charakter in der Erzählung unternimmt.

Hier gibt es dann zB einen Move wie „Gefahr trotzen“.

GEFAHR TROTZEN
Wenn du etwas Gefährliches versuchst oder auf eine unmittelbare Bedrohung
reagierst, beschreibe deine Aktion und würfle.
Bei einem vollen Erfolg gelingt dein Vorhaben.
Bei einem Teilerfolg gelingt dein Vorhaben, aber zu einem Preis.
Bei einem Fehlschlag scheitert dein Vorhaben oder eine dramatische Wendung
kommt dich teuer zu stehen. Zahle den Preis.

Ironsworn (Regeltext gekürzt)

Egal ob der Charakter durch einen reißenden Strom schwimmt oder mit einer Liane vor dem Wasserfall herschwingt, beides ist „Gefahr trotzen“, es spielt keine Rolle ob der Charakter einen guten Wert in „Schwimmen“ oder „Akrobatik“ hat. Das macht einen Unterschied dafür, wie Spielende über ihre Charaktere nachdenken: Anstatt zu überlegen, ob man eher jemanden spielen möchte, derdie gut schwimmen kann oder akrobatisch ist, denkt man darüber nach, was eine coole Szene wäre, und realisiert das auf eine passende Art und Weise.

(Randbemerkung: Es gibt auch in vielen PbtA Spielen noch verschiedene Attribute, sodass es doch einen Unterschied macht, ob man etwas zB körperlich oder geistig löst, aber es gibt zumindest keine Fertigkeiten mehr, und das ist genug für meine Pointe in diesem Post.)


In der Psychotherapie ist man momentan noch sehr beschäftigt mit der „richtigen“ Methode, oder zumindest mit der „richtigen“ Methode für bestimmte Störungsbilder. Allerdings gibt nach meiner Lesart die Forschung da wenig zu her… es sieht eher so aus, als ob auch total verschiedene Methoden eigentlich immer wirken. Nicht für alle Menschen, aber immer für ungefähr gleich viele. Egal ob Urschrei-Therapie, Betrachtung dysfunktionaler Muster, Familienaufstellung oder Beschreibung der bevorzugten Zukunft, am Ende geht es Leuten besser.

Und mein neues Verständnis gerade ist: Na klar ist das so, weil das einfach nur verschiedene Fertigkeiten sind (wie Schwimmen oder Akrobatik), aber alle machen halt den gleichen Move!

PERSPEKTIVWECHSEL
Wenn du versuchst, eine neue Lesart für dein Leben zu finden oder neue Denkmuster zu etablieren, die dir Hoffnung geben, beschreibe deine Erkenntnis und sprich darüber.
Bei einem vollen Erfolg durchbrichst du dein altes Muster und kommst weiter.
Bei einem Teilerfolg durchbrichst du es, hast aber eine schmerzliche Einsicht.
Bei einem Fehlschlag scheitert der Perspektivwechsel oder dein altes Muster verhärtet sich.

So könnte vielleicht ein häufiger Therapie-Move aussehen

Spannend finde ich daran, dass es eine weitere Betrachtungsebene einführt. Die bislang übliche Fragestellung ist diese hier:

Ich wende eine Methode an und erhoffe mir eine Wirkung. In dieser Betrachtung ist es ziemlich rätselhaft, wieso so viele Sachen helfen. In einem Beispiel aus einem anderen Bereich: Seltsam, sowohl Leute die viel Paprika essen oder wenig Stress haben oder viel spazierengehen sind alle seltener krank, das sind doch total verschiedene Methoden! Lösung: Es gibt ein Immunsystem. Ohne das mitzudenken, wirkt es unlogisch, dass so viele verschiedene Methoden das gleiche auslösen.

So macht es mehr Sinn. Alle Methoden lösen in unseren Gesprächspartner*innen halt einen Move aus, und DEN anzugucken wäre interessant, genauso wie es geil ist, dass Leute das Immunsystem erforschen anstatt Paprika oder Spaziergänge.

Für eine Konferenz im nächsten Jahr würde ich in der nächsten Zeit gern versuchen, Moves zu finden die man in helfenden Gesprächen auslöst. Perspektivwechsel und Hoffnung finden sind auf jeden Fall dabei. Habt ihr schon helfende Gespräche gehabt, aus denen ihr eine Erkenntnis über einen Move mitgenommen habt und mögt ihn teilen?

Photo by Jakob Owens on Unsplash

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