Rollenspiele 2020 – Spielsysteme
Runde 3 in meiner Rollenspiel-Serie 2020!
Spielsysteme
Fate und Quest, die ich schon mit eigenen Artikeln versehen habe, sind wunderbare Beispiele für „player-facing power„, also mehr Erzählmacht für die Spielenden, und auch für Fluff over Crunch, also weniger Rechnen und Addieren sondern mehr Beschreiben und Ausschmücken. Auch sind beides Beispiele dafür, wie man die Vorbereitung des eigentlichen Spielens (a) kurz und (b) unterhaltsam gestaltet. Hier werden keine Tabellen gewälzt, sondern Charaktere frei ausgedacht und gemeinsam verfeinert, und die Welt drumherum gleich mit. Das ist schon Teil des Spiels und für mich tatsächlich gleich ein Highlight: Worldbuilding ist geil.
In allen folgenden Spielsystemen ist das auch so: Diese sogenannten Storytelling Games (so wird es gern benannt um den Schwerpunkt zu vermitteln) sind teilweise welche, die mit möglichst wenig Regeln auskommen, und teilweise haben sie ne Menge Regeln, die aber alle dazu dienen, dass man gemeinsam ins Erzählen kommt und die Geschichten super werden!
Wir fangen an mit 2 Winz-Systemen:
Risus
Risus ist ein ganz simples System, bei dem jeder Charakter 10 Würfel auf die Dinge verteilen kann, die ihm/ihr wichtig erscheinen. Dabei gibt es keine vorgegebenen Fertigkeiten, sondern man schreibt einfach drauf los, in Form von sogenannten Klischees. Im Spiel muss man dann eben begründen, wieso irgendein Klischee jetzt Anwendung finden könnte.
Man darf dann noch auf die Klischees zehn W6 verteilen, und dann darf man eben beim Einsatz des Klischees so viele Würfel schmeißen. Hier ein Beispielcharakter mit den 10 verteilten Würfeln:
Dorithian Thunder: Weltraum-Pilot (5), Schmuggler (3), Zauberkünstler (2)
Schafft man beim Würfeln als Summe 5, reicht es für simple Aufgaben, mit 10 schafft man auch schon herausfordernde Dinge, und mit 15 gelingen heldenhafte Handlungen. Ab 20 wird es übermenschlich.
Schneller kann man keine Charaktere machen, denke ich, das ist echt ein System für’s Lagerfeuer!
Lasers and Feelings
Jeder Charakter hat einen Wert! Einen! Wenn ich Lasers machen will (Technik, Logik), möchte ich unter diesem Wert würfeln, wenn ich Feelings mache (Menschen, Charisma, Intuition), will ich drüber. Spock hätte also eine 2, Deanna Troy eine 5. Wenn ich genau meinen Wert würfele, habe ich Laserfeelings und ich darf der Spielleitung eine Frage stellen, die aufrichtig beantwortet wird!
Lasers & Feelings gibt es gratis auf der eigenen Homepage, auf deutsch gibt es eine Fassung beim Erzählspiel-Zine.
Klingt phantastisch und mit kleinem Fußabdruck!
So, das waren die simplen Systeme, für die ich echt eine Schwäche habe. Allerdings helfen einem diese Systeme nicht so sehr dabei, dass sich auch wirklich eine Geschichte ergibt… Darin sind komplexere Systeme teilweise besser, weil hier Mechaniken interessieren, die entweder der Spielleitung sehr konkrete Handreichungen bietet, um die Geschichte weitergehen zu lassen, oder sogar im Spielsystem selbst Dinge angelegt sind, die für alle Beteiligten überraschend und cool sind. Das ist etwas sehr anderes als die Rollenspielsysteme, die ich aus meiner Jugend kenne, das waren eher Regelsysteme als Spielsysteme, im Sinne von: Da ging es darum, wie macht es dieses System bei Kampfschaden, politischen Reden, Schleichen, was muss ich würfeln und in welcher Tabelle schlage ich dann nach.
Hier geht es jetzt eher um: Was passiert als nächstes?
Powered by the Apocalypse (PbtA)
Apocalypse World von Vincent Baker and Meguey Baker war, soweit ich das herausfinden konnte, das erste Rollenspiel mit ausführlichen Playbooks – also Handouts, die man als Spieler*in bekommt für die Rolle, die man sich ausgesucht hat. Es geht also nicht mehr so darum, ob ich als Krieger eben einen besseren Wert habe in Kämpfen, es geht eher darum, dass ich als einziger in der Gruppe kämpfen kann. Nur ich habe vielleicht den Spielzug „Gegner verletzen“.
Die Playbooks von Apocalypse World kann man gratis runterladen. Mich hat vor allem beeindruckt, dass fast alle Charaktere eine Sonderfähigkeit haben, die zum Tragen kommt, sobald man Sex hat mit anderen Figuren – auch Spielerfiguren. Sehr erwachsenes Spiel, da braucht es einen Tisch der das kann!
Ich selber kenne nur Dungeon World näher, das ist das gleiche Regelsystem (daher: Powered by the Apocalypse). Direkt beeindruckend im Inhaltsverzeichnis: Die Infos zu den 9 Klassen erstreckt sich über 104 Seiten. Da ist dann auch sofort klar, dass ich nicht alles kennen muss, sondern nur das in meinem Playbook!
Mir gefällt daran, dass es so brettspielig ist: Man hat halt gewisse Spielzüge, und die geschickt einzusetzen, führt zum „Sieg“ (in diesem Fall: zu einer spannenden Geschichte, in der jede Figur auf unterschiedliche Art zur Geltung kommen kann).
Gleichsam schlau ist die Idee, dass nicht nur die Spieler*innen Spielzüge haben, sondern auch die Spielleitung! Stimmt ja, ich soll kein Regisseur sein, sondern Mitspieler! Die Leitungsspielzüge sind beispielsweise:
- Verursache Schaden
- Zeige Anzeichen einer heraufziehenden Bedrohung
- Enthülle eine unangenehme Wahrheit
- Bringe jemanden in Schwierigkeiten
- Biete eine Gelegenheit – zu einem Preis oder ohne
- Trenne die Gruppe
- Verbrauche ihre Ressourcen
Dabei unterscheidet Dungeon World weiche Spielzüge (ohne unmittelbare endgültige Konsequenzen) und harte Spielzüge (sofortige Konsequenzen). Letztere passieren vor allem dann, wenn etwas schiefgeht.
Das muss man sich im Spiel vorstellen: Die Gruppe macht irgendwas in der Spielwelt, und alle schauen die Spielleitung an. „Wir sind im Labor des Zauberers und haben alles durchsucht und erfolgreich gewürfelt! Was passiert jetzt?“ Üblicherweise fühle ich mich als Spielleitung hier aufgefordert, etwas zu wissen. Aber in Dungeon World (und mutmaßlich auch in Apocalypse World) geht es darum, einen Spielzug zu machen. Zu spielen. Vielleicht wähle ich „Biete eine Gelegenheit“ und denke mir (in dem Moment!) aus, dass sie Unterlagen finden, die ihnen Ort und Zeit einer Übergabe von magischem Material verraten. Oder ich bringe jemanden in Schwierigkeiten und lasse eine Tabelle auftauchen, nach der einer der Charaktere sein magisches Schwert von genau diesem Zauberer gekauft hat! Das sind coole Ideen!
Letzthin gefällt mir noch sehr gut die starke Betonung, dass Dungeon World gespielt wird, indem man als Leitung irgendwas beschreibt und dann die Spieler fragt „Was tust du?“. Selbst die Kämpfe laufen so ab: Der Höllenhund umkreist dich eine Weile und macht sich nun bereit, zu springen: Was tust du?
No Dice, No Masters / Belonging outside Belonging
Hier kann ich gar nicht sooo viel zu sagen, weil ich bislang keins der Spiele aus dieser Ecke gespielt habe. Diese Art von Rollenspiel fand ihren Anfang mit „Dream Askew / Dream Anew“, zwei Rollenspielen über eine queere Community inmitten des Mainstreams bzw. über eine jüdische Community in der Diaspora. Es geht hier immer darum, dass die Spieler*innencharaktere versuchen, eine Heimat zu finden, auch wenn sie in der Welt nicht automatisch einen Platz eingeräumt bekommen – Belonging outside Belonging.
Das verwendete Regelsystem nennt sich „No Dice, No Masters“, und ihr könnt euch vorstellen, dass ich das hochinteressant finde! Gemeinsame Geschichten ausdenken ohne dass es eine Spielleitung braucht? Großartig! Neuestes Exemplar von No Dice, No Masters ist Wanderhome, das Kickstarter-Wunder vom Frühjahr, in dem Tiere auf Reise gehen. Kommt im Sommer 2021!
Sparked by the Resistance
Das „Resistance“-System von Grant Howitt und Chris Taylor ist für mich ein Meisterwerk, weil es nicht nur allen Proben eine spannende Dimension von risk-reward mitgibt, sondern ganz nebenbei die Story immer nach vorne bringt. Es ist quasi Regel gewordenes „failing forward“.
Ich kenne die beiden zusammenhängenden Spielwelten Spire und Heart, die nach dem System funktionieren, und bin außerordentlich begeistert!
(Möglicherweise kriegen die demnächst auch nochmal eigene Artikel).
In Spire und Heart gibt es keine Playbooks im engeren Sinne, aber es gibt auch hier Spezialfähigkeiten, die Charaktere entweder haben oder nicht. Außerdem gibt es noch Skills und Domains, also quasi Verben und Nomen, auf die man Zugriff haben kann, sodass man diese Tätigkeiten rund um diese Themen eben beherrscht (zum Beispiel: Jagen und Okkult, dann kann ich gut jagen, kenne mich mit okkultem Zeug aus, und wenn ich was okkultes jage bin ich voll in meinem Element).
Mich beeindruckt sehr, dass die Spielsysteme wie ein gut laufendes Uhrwerk perfekt ineinander greifen. Ich erkläre das mal anhand von Heart. Gewürfelt wird mit mehreren W10 (je nachdem, wie gut ich mich auskenne mit dem, was ich vorhabe nur 1 oder sogar 4 W10. Höchstes Ergebnis zählt):
- Die namensgebenden Widerstände (Resistances) sind bei Heart Blut, Geist, Echo (das ist Kontakt mit okkultem Zeug), Glück und Vorräte.
- Sobald ich würfle, riskiere ich bei Misserfolgen (1-5) und Teilerfolgen (6-7) Stress auf einen dieser Widerstände, beispielweise wenn ich versuche, jemanden zu überwältigen, möglicherweise Stress auf Blut (körperliche Auswirkungen) oder Glück (weil ich sozusagen mein Glück herausfordere).
- Immer wenn ich Stress einstecke, wird geprüft, ob dieser Stress sich in Fallout niederschlägt, also für die Geschichte relevant wird. Dafür würfelt man einen W12 – wenn der niedriger ausfällt als der gesamte Stress, kassiere ich Fallout: Ich prelle mir das Schienbein oder bin danach vom Pech verfolgt und meine nächste Probe ist schwerer.
- Um Stress und Fallout wieder loszuwerden, brauche ich Ressourcen, also irgendwelche Items, die ich finden kann. Aber natürlich ist es nicht immer einfach, die zu kriegen, also muss ich dafür etwas tun und würfeln, und riskiere erneut Stress!
Das wird quasi von ganz allein ein Gameplay-Loop, der Spaß macht! Mit einer relativ dünnen Schicht Story schickt man die Leute auf eine Reise, die sich – zumindest bei Heart – automatisch um Angst, Risiko und eine Abwärtsspirale aus Stress und Fallout dreht, da kann man den Figuren wunderbar zuschauen, wie es immer schlimmer wird. Tragisch im besten Sinne!
Es gibt das Resistance-Regelsystem für lau auf der Shopseite von Rowan, Rook and Decard, und es unterliegt einer Creative Commons-Lizenz (Namensnennung).
So viel erstmal zu den Spielsystemen, die ich aufregend fand. Nächstes Mal geht es dann noch um GM-Emulatoren!
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sagt:[…] die sich von mir durch die sechste Welt scheuchen lassen; und an Jan, der nicht aufhört eine Quelle der Inspiration und Einsicht zu […]
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